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Die Mindener Goldene Tafel

Die Replik der Goldenen Tafel entsteht.

Die Mindener Goldene Tafel, eine Perle romanisch-gotischer Kunst und ein Hauptwerk deutscher Gotik, war von 1200 - 1650 als Hochaltar jahrhundertelang zentraler Blickpunkt und kostbare Zierde der Domausstattung. Sie war das Herzstück des Mindener Domes.

Die Goldene Tafel setzt sich aus zwei Teilen zusammen: einer schreinartigen, spätromanischen Predella und einem dreiteiligen, hochgotischen Flügelretabel. Als Material wurden Eiche und Linde aus dem Weserbergland verarbeitet. Beide Teile waren polychromiert und vornehmlich in Gold und Blau farbig gefasst.

Über Künstler oder Werkstätten ist nichts bekannt.

Die Predella ist um 1220 entstanden und 2,76 / 0,72 / 0,40 m groß. Das kastenartige Gebilde ist offensichtlich mehrfach verändert worden, besaß ursprünglich eine größere Tiefe und wahrscheinlich eine Dachausbildung, also die Form eines Reliquienschreines. Damit steht die Predella an einem kunsthistorisch bedeutsamen Wendepunkt in der Geschichte der Altargestaltung und nicht zufällig weist ihr Dr. Kessemeier den Rang einer Inkunabel zu.

Die Längs- und die beiden Kopfseiten der Predella zeigen eine zweireihige Arkadenausbildung, die ursprünglich vollständig mit 40 schmückenden Statuetten besetzt war. Eine Identifizierung der einzelnen Figuren ist schwierig. Eindeutig ist die Darstellung der Marienkrönung in der zentralen Doppelarkade, ebenso wie der zehn, barfüßigen Apostelfiguren. Die weiteren noch vorhandenen zwölf Statuetten zeigen jugendliche Heilige, Bischöfe, Diakone und Ritter, darunter auch zwei weibliche Heilige allesamt jedoch fraglos Personen, die mit der frühen Mindener Kirche in engstem Zusammenhang stehen. Ganz sicher sind der hl. Petrus, der hl. Gorgonius, der hl. Mauritius, der hl. Andreas, der hl. Laurentius, der hl. Helmward und der hl. Erkanbert darunter. Bemerkenswert ist der typisch romanische Antlitztypus aller Figuren. Die ikonografische Verwandtschaft mit dem Lettnerfries im Querhaus ist unübersehbar.

Ausschnitt aus der originalen Goldenen Tafel im Bode-Museum in Berlin.Thematisch beherrschend ist eindeutig die Darstellung der Marienkrönung. Die Etablierung Marias als Himmelskönigin muß als Triumphmotiv der Institution Kirche gesehen werden, für welche sie steht und mit deren höchster Ehrung und Verherrlichung man sie verbindet. Es darf angenommen werden, dass mehrere Jahrhunderte die Predella der Aufbewahrung der Hauptreliquien des Domes diente.

Das Flügelretabel wurde um 1420 geschaffen und besitzt das Maß von 5,51/1, 79/0,19 m. Wie bei der Predella bildet die Marienkrönung das Zentrum des Altarbildes, umrahmt von einer Schar anmutiger, musizierender Engel, die mittelalterliche Musikinstrumente in verschiedenen Formen spielen, eine musikwissenschaftlich bedeutsame Wiedergabe.

Die Krönungsszene wird flankiert von zwölf Apostelfiguren, die über Prophetenreliefs in Tonden stehen und von filigranen Baldachinen bekrönt werden. Wie die Predella war das Retabel farbig kräftig gefasst, wobei die Vergoldung dominierte. Die Rahmen weisen Umschriften in gotischer Textura auf. Die ursprünglich hintere Bemalung der Außenflügel ist nur noch in Resten vorhanden. Sie stellen eine Einhornjagd dar. Frappant sind die Ähnlichkeit der Krönungsdarstellung mit der einzig erhaltenen Mindener Bischofsmitra von 1390 und mit den Baldachinausbildungen der Chormantelschließe des von Leteln aus dem Jahre 1487.

Während es die Predella bestenfalls andeutet, stellt das Retabel eine grandiose Darstellung des Themas des irdischen und himmlischen Jerusalems dar. Die untere Altarleiste nimmt die Hoffnung des Volkes Israel auf, das sich immer wieder in seinen Propheten und Königen zeigt. Im neuen Volk hat sich die Erwartung erfüllt und steht zugleich noch aus. Es gibt noch eine Vollendung, die in den zwölf goldenen Baldachintoren angedeutet ist, die jede Apostelfigur überdacht. Aus dem Jerusalem Israels entsteht, aufgebaut auf die zwölf Apostel, die Kirche. Auch sie hat ihre Botschaft. Aber auch die Kirche ist nur Durchgangsstation, Provisorium, Übergang. Was in den Propheten voraus verkündigt ist, das findet sich als Credo im Herzen der Apostel. Jeder Apostel steht für eine im Glauben eingelöste Hoffnung, einen Glaubensartikel, aus der Tiefe des alten Testaments hervorgewachsen:

Petrus über Jeremia:  Credo in unum Deum - Ich glaube an Gott
Andreas über David:  et in Jesum Christum - und an Jesus Christus
Johannes der Ältere über Jesaia:  qui coeptus est - der gekommen ist
Thomas über Daniel:  passus sub Pontio Pilato - gelitten unter Pontius Pilatus
Thomas über Osea:   descendit ad inferna - hinabgestiegen in das Reich des Todes
Jakobus der Jüngere über Amos:  ascendit ad caelos - aufgefahren in den Himmel
Philippus über Sophonias:  in de venturus - von dort wird er wiederkommen
Bartholomäus über Joel:   credo in spiritum sanctum - ich glaube an den Heiligen Geist
Matthäus über Micha:  sanctam ecclesiam - die heilige Kirche
Simon über Malachia:  remissionem peccatorum - die Vergebung der Sünden
Judas Thaddäus über Zacharias:  carnis resurrectionem - Auferstehung der Toten
Matthias über Ezechiel:  et vitam aeternam - und das Ewige Leben

Den Weg und die Lehre der Kirche sowie das Ziel und die Vollendung eines jeden Christen im ewigen Leben, dem himmlischen Jerusalem, verkündet dieses herrliche Retabel: Theologie auf höchstem Niveau, eindrucksvoll, anschaulich und prägnant.

Ausschnitt aus der Replik der Goldenen Tafel.Die Rahmen des Retabels tragen Inschriften in lateinischer Sprache: Marienhymnen von zeitloser Schönheit:  "Sei gegrüßt, Maria, du Edelstein der Reinheit ! Aus dir ging hervor der Welt strahlende Sonne der Gerechtigkeit. Sei gegrüßt, du gütige Mutter der Christen!" Dies als Auszug und Kostprobe.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass unmittelbar mit der Anfertigung des Retabels die Kombination mit der Predella entstanden ist, alles in einer feinfühligen maßlichen Abstimmung mit der Raumarchitektur des Chorpolygons von 1350. Ein höheres Maß an Einheit und Harmonie von Ausstattung und Architektur ist schlechterdings nicht erreichbar.

Die gesamte Architektur des Mindener Domes ist in ihrem Nebeneinander - Dr. Suckale spricht von einer eigenartigen Gebrochenheit - spätromanischer und frühgotischer Bauteile heterogen strukturiert und in besonderer Weise bestimmt. Gleiches gilt für die Goldene Tafel, sie fokussiert gewissermaßen die Architektur des Domes und spiegelt sie paradigmatisch wider. So weist auch sie diese interessante, faszinierende Polarität des Nebeneinanders zweier Stile auf, die unseren Dom als Ganzes charakterisiert.

Victrix Mindensis ecclesia - Herrliche Kirche von Minden - beschreiben die Professoren Brandt und Hengst das alte Bistum Minden. Sicher haben sie dabei auch an die Goldene Mindener Tafel gedacht.

450 Jahre prägte sie das Innenbild des Domes, aber auch das religiöse Leben des Bistums. Neun bedeutende Mindener Bischöfe fanden vor ihr eine ehrenvolle, letzte Ruhestätte. Sie war in der Tat das Herzstück des Domes.

Das Jahr 1648 bedeutete für Europa, auch für das Bistum Minden, eine außergewöhnliche Zäsur. Der dreißigjährige Krieg, als Folge des unglücklichen Verlaufs der Reformation, kostete Minden mit dem Abschluss des Westfälischen Friedens seinen Bischofssitz und die Dominanz der römisch-katholische Kirche. Was geschah mit dem Dom? Er blieb zwar bis auf den heutigen Tag katholisch, musste aber 1656 erleben, dass seine Goldene Tafel als Hochaltar aus dem Hochchor entfernt, ihrer Funktion beraubt und irgendwo im Langhaus abgestellt wurde.

Blick in den Mindener Dom und auf die Goldene Tafel.Dem Dom wurde das Herz herausgerissen. Nichts markiert die geistige Verwirrung und den kulturellen Tiefstand in der Mitte des 17. Jahrhunderts deutlicher, als dieser ungeheure Frevel. Es ist absolut unglaubwürdig, das der Zustand der Goldenen Tafel ausgerechnet 1656 so desolat war, dass eine Wegnahme unvermeidlich gewesen ist.

Alles was jetzt noch über die Goldene Tafel zu berichten bleibt ist unerfreulich und trostlos. Dr. Pieper schreibt im BKW 50 Teil II detailliert darüber.

1909 erfolgte nach aufgeregten Diskussionen über die Restaurierungsfrage und Kopien der Verkauf an das [Bode-Museum] in Berlin, wobei der Verkauf von der Bürgerschaft immerhin als ein unersetzlicher Verlust empfunden wurde und erhebliche Unruhe auslöste. Der verantwortliche Kirchenvorstand dachte allerdings pragmatisch und vereinnahmte ungeniert 45.000 Reichsmark.

Der heutige Zustand der Goldenen Tafel ist Besorgnis erregend. Das gilt vornehmlich für die Predella. Eine Restaurierung, die um 1900 von Fachleuten noch für möglich gehalten wurde, erscheint heute nicht mehr realisierbar. Das bedeutet, dass in absehbarer Zeit mit dem Verlust der Goldenen Tafel gerechnet werden muss. Es ist eine vergleichbare, überaus fatale Situation wie bei unserem Marienfresko entstanden, dass praktisch verdunstet. Die Anfertigung einer qualitätvollen Replik ist die einzige verbleibende Möglichkeit, die Goldene Tafel einer weiteren Zukunft zu erhalten. Sie ermöglicht allerdings auch eine Wiedereinbringung in den Hochchor des Domes und eine Heilung der Wunde, die 1656 geschlagen wurde.

Nach dem eindrucksvollen Wiederaufbau des Domes bemühen sich Dompropsteigemeinde und Dombauverein zielstrebig und nicht ohne Erfolg um eine angemessene Ausstattung. Die Arbeit des Renovierungsausschusses sollte nicht unerwähnt bleiben, sie läuft nunmehr über 14 Jahre und kann auf 129 Sitzungen verweisen. Der Renovierungsausschuss empfiehlt einstimmig und nachdrücklich die Anfertigung einer guten, vollständigen Replik der Goldenen Tafel und deren Aufstellung im Hochchor.

Installation der Marienkrönung auf der Replik der Goldenen Tafel.Diese Empfehlung trägt dem überragenden künstlerischen und kunsthistorischen Rang der Goldenen Tafel ebenso Rechnung, wie ihrer eminenten Bedeutung für den Mindener Dom. Sie verdient darüber hinaus gebührende Beachtung, da sie grundlegende, aktuelle Überlegungen zur Ausstattungskonzeption des Domes beinhaltet.

Bei der schrittweisen und behutsamen Ausgestaltung des Domes war es ein erklärtes Anliegen, die modernen liturgischen Vorstellungen des letzten Konzils konsequent umzusetzen. 1974 wurde der neue Vierungsaltar als zentraler Hauptaltar des Domes errichtet und 1992 durch die freie Aufhängung einer Replik des Mindener Kreuzes eindrucksvoll fixiert. 1993 erfolgte die Umsetzung des Taufsteins vom Querhaus in die Eingangszone des Langhauses. Er hat inzwischen eine qualitätvolle Abdeckung erhalten, nachdem er durch eine ornamentale Bodeneinfassung eine angemessene Aufwertung erhalten hat.

Durch die zwischenzeitlich im Rahmen des Bistumsjubiläums, erfolgte Aufstellung einer Kopie des Retabels der Goldenen Tafel aus Herford war es möglich, probeweise eine Konzeption aufzuzeigen, die in der Mittel- und Hauptachse des Domes die dominante Objektfolge von Taufstein, Vierungsaltar mit Kreuz und Goldener Tafel aufweist. In enger Anlehnung an bekannte Prinzipien frühchristlicher Sakralarchitektur und in Übereinstimmung mit zeitgemäßen liturgischen Forderungen soll so jedem Besucher des Domes in stringenter Form der Heilsweg der Kirche nahe gebracht werden: Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen durch die hl. Taufe, Begegnung mit Christus in der hl. Eucharistie am Altar und schließlich die Erfüllung und Vollendung christlicher Existenz in einem ewigen Leben durch die herrliche Goldene Tafel.

Die Realisierung der aufgezeigten schlüssigen und zeitlosen spirituellen Konzeption, zumal auf einem erstklassigen künstlerischen Niveau, lässt ein großartiges Ergebnis erwarten. Unser Dom wäre jedenfalls vorzüglich gerüstet, den Weg in das nächste Jahrtausend anzutreten.

* Der Autor Werner Rösner (verstorben 2002) war Architekt und langjähriger Geschäftsführer des Dombauvereins Minden.

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