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Die Deutung der Goldenen Tafel

Die Marienkrönung auf der Goldenen Tafel im Mindener Dom.

Der Heilige Geist wird über dich kommen
- Zur „Rückkehr“ der Goldenen Tafel in den Mindener Dom

Von Propst am Dom i. R. Paul Jakobi, Minden

Wer den Mindener Dom vom Westen her betritt, das „Paradies“ durchschreitet, sich über die Treppenstufen aus den „Niederungen“ der Welt erhebt und das romanische Portal öffnet, entdeckt auf dem Taufstein das Relief einer großen Taube, die über den Wassern schwebt; sie ist ein Symbol für den Heiligen Geist. Die erste Erfahrung, die der Besucher des Domes macht, ist seine Begegnung mit ihm. Gleich am Anfang geht die Erinnerung in die Welt- und in die eigene Lebensgeschichte zurück. „Die Erde war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über den Wassern“ (Gen 1,1). Dieser Geist Gottes hat der Welt eine Struktur verliehen, so dass die Menschen ihr den Namen „Kosmos“, das heißt „Ordnung“ gaben. Die Bibel spricht in ihrem Schöpfungsbericht vom „Garten“ (Gen 2,8). Am Anfang der Weltgeschichte steht die ordnende und Leben spendende Kraft des göttlichen Geistes.

Ich bin getauft und Gott geweiht

Die Taube über dem Wasser erinnert den Besucher auch an seine eigene Lebensgeschichte. An diesem Brunnen, der von einem romanischen Bodenmosaik aus der Zeit um 1000 umgeben ist, werden die Gläubigen an die „Quelle des Lebens“ (Ps 36,10), an ihre Taufe erinnert. „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (Joh 3,5), sagt Jesus zu Nikodemus. In der Taufe empfangen die Menschen den Heiligen Geist, der in einem Hymnus „vivifikator – Lebendigmacher“ genannt wird. Von ihm erwarten die Getauften Weggeleit durch das Leben. Um dieses Verlangen der Menschen nach dem Geist auszudrücken, wurde dem Taufbrunnen eine künstlerisch gestaltete Abdeckung gegeben, die als Aufschrift den Hymnus „Veni, Creator Spiritus“ trägt, den der mittelalterliche Theologe Rhabanus Maurus getextet hat. Dieser Theologe war am Anfang des 9. Jahrhunderts zusammen mit dem ersten Bischof von Minden Erkanbert Mönch im Benediktinerkloster zu Fulda. Das Wirken des göttlichen Geistes wurde immer als unverzichtbares Element geordneter Lebens- und Weltgestaltung empfunden. Daher der Ruf der Christen: „komm, Schöpfer Geist.“

Das Lied auf dem Bronzedeckel beschreibt das Wirken des Heiligen Geistes. Es spricht vom Schöpfer und Tröster, vom Lebensquell und Feuer, vom Finger der Hand Gottes und vom Versprechen des Vaters; das Lied nennt den Heiligen Geist den Entzünder des Lichtes, den Friedensspender, den Führer durch die Nacht. Diese Bezeichnungen sind Antworten auf die Nöte der Menschen, denen der Heilige Geist als „Geschenk Gottes“ an die Welt Einhalt gebietet. Er ist derjenige, der den Lebensweg der Menschen und den der ganzen Kirche zu lenken weiß und ihnen Sicherheit und Orientierung verleiht.

In diesen Tagen haben wir die „Nacht“ besonders bedrückend erfahren. In ihrer Ausweglosigkeit haben die Schüler und Schülerinnen des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt ein Plakat an das Fenster gehalten, das die Aufschrift „Hilfe“ trug. Wer wird nicht an Bert Brechts „Kinderkreuzzug“ erinnert, bei dem die auf der Flucht befindlichen Kinder ihrem Hund eine Papptafel mit der Aufschrift „wir wissen den Weg nicht mehr“ um den Hals gehängt haben? Dieser Schrei „wir wissen den Weg nicht mehr“ ist zu einem Symbol für den irrenden Menschen, vielleicht sogar für unsere Gesellschaft geworden. Rhabanus Maurus nennt den Heiligen Geist einen „Führer durch die Nacht“. Wer wollte uns sonst die Wege weisen?

Eine neue Deutung des Kreuzes

Das Versprechen Gottes, mit seinem Geist in der Kirche gegenwärtig zu sein,  ist wichtig, weil ein langer, undurchsichtiger Weg vor jedem Menschen liegt. Der Mittelgang des Domes ist ein Symbol dieses Weges. Das Mindener Kreuz über dem Vierungsaltar ist eine Drohung, zumindest eine Mahnung: Keiner bleibt von seinem Kreuz verschont. Das Kreuz kann Krankheit und Not, Einsamkeit und Verzweiflung, Irrweg und Gottesferne bedeuten. Von allen diesen Lasten möchten wir uns befreien, weil sie unser menschliches Glück beeinträchtigen. Ein Kreuz aber lässt sich nicht abwerfen. „Wir müssen das Kreuz tragen, ehe es uns trägt“, hat Claudel in seinem „Kreuzweg“ geschrieben.

Der Heilige Geist, der in der Taufe über die Gläubigen gekommen ist und ihnen zum Wegbegleiter wurde, wird von dem mittelalterlichen Theologen Rhabanus Maurus auch „Tröster“ genannt. Damit drückt er aus, dass der Geist dem Kreuz eine andere Deutung zu geben vermag: Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi ist es zum Zeichen göttlicher Liebe zu den Menschen geworden. Das Kreuz ist ein Protest gegen alle Gewalt in der Welt, gegen den Missbrauch der Macht; es ist ein Aufstand der Ohnmächtigen gegen die Mächtigen, der Schwachen gegen ihre Unterdrücker. Das Kreuz Jesu ist das Zeichen seiner demütigen und liebenden Fußwaschung der Welt. Dieses Zeichen sichert Menschenwürde. Der Geist Gottes, der in der Taufe über die Christen gekommen ist, lehrt sie, diese neue Botschaft des Kreuzes zu vernehmen. Die Welt braucht eine Botschaft der Liebe, nicht die Demonstration und das Getue der Macht!

Diese Stadt ist aus reinem Gold

Seit dem Pfingstfest dieses Jahres wird den Besuchern des Domes noch etwas anderes „vor Augen“ geführt, was der mittelalterliche Beter in diesem Gotteshaus jahrhundertelang anschauen konnte: Das himmlische Jerusalem in der Darstellung der Goldenen Tafel.

Mehrere Jahrhunderte bis zum Westfälischen Frieden 1648 hatte der Mindener Altar den Dom geprägt. Für den Beter war er Blickfang und Aufforderung, das Ziel seines Lebens nicht aus dem Auge zu verlieren. Zu allen Zeiten waren die Angebote der Welt  Versuchungen, den Menschen von seinem Weg abzubringen. Das heute kaum noch akzeptierte Wort „Sünde“ bedeutet nach der Auffassung des Alten Testamentes „sein Lebensziel verfehlen.“ Vielleicht ist diese Gefahr in einer Zeit reiner Diesseitigkeit und unbegrenzter Autonomiesucht der Menschen heute noch viel größer als im Mittelalter.

Nun ist die Goldene Tafel als Nachbildung eines der schönsten deutschen mittelalterlichen Flügelaltäre in den Mindener Dom zurückgekehrt. „Diese Stadt ist“ – wie in der Geheimen Offenbarung (21,18) beschrieben, „aus reinem Gold.“ Nach dem sorgfältig herbeigeführten Beschluss der Domgemeinde haben erstklassige Künstler, Wissenschaftler, Historiker, Restauratoren, Bildhauer, Handwerker und Theologen 2 ½ Jahre lang an diesem Werk gearbeitet. Der Dombau-Verein, der seit 1948 die Gelder für die Wiederherstellung des Domes gewissenhaft sammelt, hat die Finanzierung übernommen. Die neue Goldene Tafel besteht wie die alte, die in der Skulpturensammlung der Staatlichen Museen in Berlin zu bewundern ist, aus zwei Teilen: einer romanischen Predella und einem gotischen Flügelaltar. Der romanische Unterbau (um 1220) war ursprünglich ein Reliquiar, das Gebeine von Heiligen in sich barg. Darum war dieser Schrein mit Heiligenfiguren verziert. Die Mitte bildet eine Marienkrönung, die auch früher farblich gefasst war, um 1900 aber im Zusammenhang mit einer Restaurierung abgelaugt wurde.

Das alte gotische Retabel (um 1425) war von ganz besonderer Pracht. Im Zentrum einer Mandorla sehen wir Jesus, der seiner Mutter die Krone des Himmels aufgesetzt hat. Diese Krönung Mariens zeigt dem gläubigen Christen das Urbild des vollendeten Menschen. Am Anfang ihrer Berufung hatte der Engel zu ihr gesagt: „Der Heilige Geist wird über dich kommen“ (Lk 1,35). Diese Botschaft, die in der Taufe auch über jeden Christen gesprochen wird, war der heilsgeschichtliche Ausgangspunkt ihres Lebens. Hier in der Marienkrönung wird nun ihr Endpunkt, ihre Vollendung und ihre Herrlichkeit gezeigt. Um diesen von Gott geschenkten Triumph zu unterstreichen, ist sie von neun Engelchören mit mittelalterlichen Instrumenten umgeben. Die zwölf Apostel rechts und links, über denen die zwölf Tore des himmlischen Jerusalem angedeutet werden, sind Zeugen dieser Marienehrung. Nach der Krönung segnet Jesus seine Mutter, aber sein Blick ist nicht auf Maria, sondern auf den Betrachter, auf das Volk Gottes gerichtet. Alle Menschen werden gesegnet und alle sind zur Herrlichkeit berufen. An dieses Lebensziel will uns die Goldene Tafel bei jedem Dombesuch und in jedem Gottesdienst erinnern.

Maria als Symbol menschlicher und vor allem fraulicher Würde

Maria ist nicht aus sich groß, nicht durch ihre eigene Leistung, sondern der Heilige Geist hat sie groß gemacht. So ist sie ein einziger Lobgesang auf die Gnade Gottes. Jesus Christus ist und bleibt das Haupt der Schöpfung; er ist es, der seiner Mutter die Krone aufgesetzt hat. Die Darstellung einer Marienkrönung ist keine verstaubte Vergangenheit, sondern sie ist gerade für den heutigen Menschen von höchster Aktualität. Es ist erstaunlich, wie hilflos viele Menschen heute vor diesem Mariengeheimnis stehen. Die heimgekehrte Goldene Tafel sagt uns:

Nicht nur die Seele, sondern auch der Leib ist wichtig; auch er hat eine Würde und ist zur Auferstehung berufen. Das Geheimnis seiner Verherrlichung ist eine Absage an Missachtung und Zerstörung des Leibes. Der von Gott geschaffene Leib ist so wertvoll, so schön, so vollendet gestaltet, dass er nicht einfach verfällt, sondern mit seiner Seele zusammen in die Ewigkeit Gottes aufgenommen wird. Ohne den Leib können wir nicht lieben; er ist auch im Himmel notwendig, um lieben zu können.

Die Krönung Mariens hebt die Frau hervor; sie steht unmittelbar neben ihrem Sohn. Ihre Vollendung im Himmel ist ein Protest gegen die Ausbeutung und Unterdrückung der Frauen in der Welt. Das Mariengeheimnis lädt die Frauen ein, sich in der Gesellschaft einzubringen, aber nicht in der Nachahmung männlicher Rollen, sondern mit ihrem eigenen Genius. Sie sollen der Welt und der Kirche aufgrund ihrer eigenen Berufung ein anderes, menschliches Gesicht geben. Die unterschiedlichen Frauenbewegungen könnten in Maria ein wegweisendes Leitbild finden.

Die Goldene Tafel mit der Krönung Mariens belehrt die Menschen, dass das Leben nicht ein Ende, sondern ein Ziel hat. Die Welt kennt nur das Ende, den Tod, das Grab. Der Glaube an die leibliche Aufnahme Mariens aber sagt: Am Ende des irdischen Lebens hat Gott Maria mit Leib und Seele zu sich genommen. Dieses Geschenk will Gott allen Menschen machen. Gegen eine Welt, die nur diesseitig denken kann, richtet die Kirche am Grabe eine Botschaft vom Leben auf, von einem Leben in der königlichen Herrlichkeit Gottes.

In der Krönung endet der irdische Weg der Glaubenden; hier wird er vollendet. Das Gottesvolk kann Einzug halten in das himmlische Jerusalem. Dort erwartet Maria ihre Schwestern und Brüder, die Gemeinde Jesu Christi, in der Herrlichkeit des dreifaltigen Gottes und in der Gemeinschaft mit allen Heiligen. Diese Vollendung der Welt in herrlichem Glanz darzustellen ist die Aussage der Goldenen Tafel.

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