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Preußen und die Demokratie

Das Pech des preußischen Innenministers und Herrn über 85.000 Polizisten

Von Martin Steffen

Der preußische Innenminister Carl Severing hatte Pech: Als er einen sozialdemokratischen Weggefährten in der Mindener Nordstadt besuchen wollte, verweigerte dessen Frau ihm den Eintritt: Also, das komme nicht in Frage. Ihr Mann sei noch unterwegs und sie kenne ihn nicht. Er dürfe aber gerne vorm Haus warten.

Und so ging der Herr über 85.000 Polizeibeamte mit seinem Fahrer über eine Stunde auf einem Stichweg an der Marienstraße spazieren. Carl Severing verkörperte für Westfalen das Preußen der Weimarer Republik.

Der gelernte Schlosser aus Herford hatte sich 1903 um den Reichstagssitz für das ländliche Minden-Lübbecke beworben - chancenlos. 1907 gewann Severing im zweiten Wahlgang gegen einen konservativen Kandidaten den Wahlkreis Bielefeld- Wiedenbrück für die SPD. Unterstützt wurde er in der Stichwahl von der katholischen Zentrumspartei. Das war fast eine Vorwegnahme der "Weimarer Koalition", die Preußen von 1918 bis 1932 demokratische und leidlich stabile Verhältnisse bescherte.

Nach der Revolution Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 war mit dem Deutschen Reich auch der größte Bundesstaat zur Republik geworden. Vor 1914 wurde der preußische Staat als politisch rückständig wahrgenommen. Diese Rückständigkeit wurde auch in Minden durch das Dreiklassenwahlrecht spürbar, das den Besitzbürgern im Verhältnis mehr Abgeordnete zugestand als den Arbeitern und kleinen Angestellten in Stadt und Land.

In der Republik änderten sich die Verhältnisse. Sozialdemokraten, Zentrum und Linksliberale waren vor 1914 Oppositionsparteien. 1919 hatten sie sich in der Nationalversammlung von Weimar für eine parlamentarische und demokratische Verfassung eingesetzt und die erste Regierung der Republik gebildet.

In Preußen behauptete sich diese Koalition wegen ihrer breiten Basis länger als im übrigen Land, trotz der Bedrohung der jungen Demokratie von links und rechts und trotz ihrer politischen und wirtschaftlichen Schwächen: Während sich auf der Reichsebene in vierzehn Jahren 21 Kabinette ablösten, gab es im Freistaat Preußen sieben, die sich anders als die Reichsregierungen meist auf parlamentarische Mehrheiten verlassen konnten.

In Minden, der "preußischsten Stadt Westfalens", konnte sich nicht jeder Mindener mit dem demokratisch verfassten Preußen abfinden. Die liberalen und demokratischen Parteien verloren seit Mitte der zwanziger Jahre ihre Stimmenmehrheit in der Stadt.

Auch sonst schienen in der alten Garnisonstadt die Jahre des Kaiserreichs vielen Bürgern als "herrliche Zeiten". "Preußen" war in diesen Bevölkerungskreisen nicht das real existierende, modern verwaltete Land der Weimarer Republik. "Preußen", das waren Friedrich der Große, der "eiserne Kanzler" Bismarck, und Träume von vergangener Größe.

Viele Konservative schoben den demokratischen Parteien die Schuld für den verlorenen Weltkrieg und die Wirtschaftsmisere zu, wenn auch die Sozialdemokratie immer wieder darauf hinwies, nicht sie habe das Land 1918 im Stich gelassen. Geflüchtet war ja der Kaiser und König von Preußen, Wilhelm II.

Carl Severing war seit 1919 auch preußischer Landtagsabgeordneter. Seit 1920 gehörte er der preußischen Regierung des Ministerpräsidenten Otto Braun an. Severing war mit kurzen Unterbrechungen Innenminister dieser Koalitionsregierung. Der selbstbewusste Ostwestfale bemühte sich, die Republik gegen Gegner von rechts und links zu verteidigen und setzte dabei auf die Stärkung der preußischen Polizei und auf das Gesetz zum Schutz der Republik.

Dieses Gesetz war 1922 nach der Ermordung des Außenministers Walter Rathenau und weiteren rechtsradikalen Mordanschlägen verabschiedet worden.Konsequent angewendet wurde es nur in Preußen - durch Severings Behörden, auch wenn die Justiz sich anschließend vielfach als auf dem rechten Auge blind erwies. Severings Innenministerium bemühte sich um die Stärkung der Polizei als Instrument zur Verteidigung der Republik.

Das führte dazu, dass sich der Minister angesichts des "Durchgreifens" bei Demonstrationen und politischen Krawallen selbst aus Polizeikreisen den Vorwurf gefallen lassen musste, die Schutzpolizei über Gebühr "militarisiert" zu haben.Reformen und moderne Ansätze in Verwaltung und Bildungswesen gehören zu den Kennzeichen Preußens in der Weimarer Republik. Manches übernahmen die junge Bonner Bundesrepublik und die Länder nach 1949 - wie das Polizeiverwaltungsgesetz von 1931 oder die überkonfessionelle Lehrerausbildung.

Unter Carl Severings Regie versuchten die Koalition aus SPD, Zentrum und Demokratischer Partei die konservativen Strukturen der Verwaltung dadurch aufzubrechen, dass verfassungstreue Beamte in Leitungspositionen gebracht wurden. Gegner der Republik sprachen prompt von Parteienwirtschaft und Proporzdenken, meinten aber die Verfassung.

Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 beschleunigte den Rechtsruck und die politische Apathie in Minden, Preußen und dem Reich. Kanzler Brüning konnte nur mit Notverordnungen und ohne parlamentarische Mehrheit regieren. Nazis und Kommunisten blockierten das Parlament, Krawalle und politische Morde nahmen zu.

Ende Mai 1932 entließ Reichspräsident Hindenburg Brüning. Von seinem konservativen Nachfolger, Franz von Papen hatte die Republik nichts Gutes zu erwarten. Zunächst hob Papen das Verbot der nationalsozialistischen SA auf. Die politische Gewalt explodierte. Papen bereitete die Absetzung der preußischen Regierung durch eine Präsidialverordnung vor.

Seine infame Begründung: Preußens Regierung werde der Gewalt im Lande ja wohl offenkundig nicht mehr Herr. Als Papen die geplante Absetzung Severing gegenüber ankündigte, reagierte dieser mit dem trotzig- resignierten Satz: "Ich weiche nur der Gewalt."Am 20. Juli 1932 endete das demokratische Preußen. Papen ließ die Regierung Braun-Severing absetzen.

Ministerpräsident Otto Braun, Innenminister Carl Severing und das übrige Kabinett wichen der Gewalt Papens. Die legale preußische Regierung klagte zwar beim Reichsgericht gegen ihre Absetzung. Aktiver Widerstand schien aber auch Severing aussichtslos - und ein Generalstreik in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit wenig wirksam. Ohne Preußen war der Untergang der ersten deutschen Republik nur noch eine Frage der Zeit.

An den demokratischen Abschnitt der preußischen Geschichte Mindens erinnert im Stadtbild nur noch das Behördenhaus in der Heidestraße. Die Stadt ließ den Klinkerbau 1925 für preußische Behörden errichten. Über dem Eingang wurde der preußische Adler ohne königliche Herrschaftszeichen angebracht. Das Wappentier aus Terrakotta wirkt schmucklos und republikanisch, passend zum Freistaat, wie ihn Otto Braun und Carl Severing sahen.

Der Freistaat Preußen ist Vergangenheit. Er hat das Ende der Demokratie 1933 nicht verhindern können, weil die Demokratisierung der staatlichen Strukturen nicht weit genug fortgeschritten war. Dennoch gehören die Jahre von 1920 bis 1932 zu den positiven Seiten der Geschichte Preußens, auch wenn das angesichts des Verlaufs der deutschen Geschichte bis 1945 kaum ein Trost sein kann.

Achter und letzter Teil der Preußen-Serie: Der Löwe im Schloss - der Kurfürst

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