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Die Simeonskirche in Minden

St. Simeonis in Minden ist eine Offene Kirche | Luftbild: www.edwin-dodd.com

Minden schreibt Kirchengeschichte

"Minden, historische Stadt voller Leben" - so heißt seit dem Stadtjubiläum "1200 Jahre Minden" eine Devise der Stadt. Dennoch scheinen in dieser Stadt das historische Gedächtnis oder das Erinnerungsvermögen oft unzulänglich zu sein. Ein Leserbrief im Mindener Tageblatt erinnerte an das vom Rat der Stadt Minden verabschiedete "Leitbild für die Stadt Minden" und zitierte daraus: "Die reiche Geschichte Mindens spiegelt sich noch heute im Stadtbild und in einer traditionsbewussten Bürgerschaft. Minden lebt aus seinen Quellen."

Zu diesen Mindener Geschichtsquellen gehören seit mehr als 1200 Jahren die Kirchen der Stadt, die kirchlichen Strukturen des Mittelalters, die Klöster und Stifte bis zur Säkularisation (1810), die Reformation, die verschiedenen Konfessionen (katholisch, lutherisch, reformiert), der Klerus, das kirchliche Leben, die Pfarrer und die kirchlich-kommunalen Hospitäler bis zu ihrer Auflösung um 1830. Die Kirchen einer Stadt sind aber nicht nur Geschichtsquellen, sondern auch wesentliche Bausteine ihrer historischen Identität. Deswegen sollte man, wie das Sprichwort sagt, „die Kirche im Dorfe lassen“, und für eine Stadt gilt das erst recht!

Es gibt sogar Städte, in denen gegenwärtig Kirchen wieder aufgebaut werden, damit die alte Stadtgestalt und die Identität der Stadt wiederhergestellt werden, so die Georgenkirche in Wismar und die Frauenkirche in Dresden. Die Kirche ist ein unverzichtbares Monument der europäischen Stadt - Religion, Kultur, Kunst, die bauliche „Stadtkrone“.

„Mir lasse den Dom in Kölle, denn da gehört er hin . . .“, singen die Kölner. Wir lassen die Pfarrkirche St. Simeonis in Minden, denn hier gehört diese Kirche zur Geschichte, zur Gegenwart und Zukunft dieser Stadt. Die historische Dimension und Bedeutung der Stadt machen die Existenz aller Kirchen in der Stadt unverzichtbar. Aber sehen das alle so, auch die „Auswärtigen“,  zum Beispiel die in Bielefeld angesiedelte Leitung der „Evangelischen Kirche von Westfalen“ und die des Kirchenkreises Minden?

Die überregionale Bedeutung der Pfarrkirche St. Simeon für die Reformationsgeschichte in Nordwestdeutschland liegt konkret in der Pfarrstelle und in der Kanzel dieser Kirche. Beide markieren den Anfang der Reformation in Minden, deren „heiße Phase“ in dieser Kirche am Sonntag, den 26. September 1529 begann. Und das hatte Folgen für die Stadt Minden, für die Diözese Minden, das Fürstbistum, die Gegenreformation in Norddeutschland, für die Bildung zweier Konsistorien (Stadt und Fürstbistum) und sehr viel später für die Entstehung der Evangelischen Kirche von Westfalen.

Die entscheidende Weichenstellung für die Pfarrstelle der um 1214 gegründeten Simeonskirche erfolgte durch die Verlegung des 1042 auf einer Weserinsel vor Minden gegründeten Benediktinerklosters St. Mauritius im Jahre 1434 an die Kirche St. Simeon, die von 1434 bis 1475 zugleich Pfarr- und Klosterkirche war, denn erst 1475 ist die neue Klosterkirche St. Mauritius unmittelbar neben St. Simeon fertiggestellt worden. Bis 1435 hatte der jeweilige Mindener Dompropst das Patronat über die Pfarrkirche St. Simeon und damit das Recht, die Pfarrstelle mit einem Priester zu besetzen; ein solcher Priester ist noch bis 1448 im Amt. Nachdem aber seit 1434 das Kloster die Kirche mitbenutzte, wurde die Pfarrstelle mit ihrem Pfarrhaus und Pfarrvermögen, das dem Lebensunterhalt des Gemeindeseelsorgers dienen sollte, dem Kloster „inkorporiert“, das heißt mit Genehmigung des Bischofs zugunsten des Klosters eingezogen. Dafür hatte nun künftig einer der Mönche die Aufgaben des Gemeindepfarrers von St.Simeon wahrzunehmen.

1448 genehmigte Papst Nikolaus V. ausdrücklich, dass an der Pfarrkirche St. Simeon Minden ein geeigneter Mönch die Funktion des Seelsorgers übernehmen könne. Offenbar waren die Fähigkeiten zur pastoralen Tätigkeit der Mindener Benediktinermönche Ende des 15. Jahrhunderts nicht sehr ausgebildet, denn 1498 erhielt das Kloster von Papst Alexander VI. die Erlaubnis, die Seelsorge an St. Simeon durch einen „Weltgeistlichen“ anstelle eines Mönches wahrnehmen zu lassen.

Als die neue Lehre Martin Luthers bekannt geworden war, sich eine evangelische Bewegung in der Bürgerschaft gebildet hatte und der Administrator des Fürstbistums Minden, Franz I., verstorben war, hatte aber wieder ein Mönch aus dem Kloster St. Mauritius die Aufgaben des Seelsorgers in der Simeonsgemeinde zu erfüllen. Dieser Mönch hatte allerdings in seiner Klosterzelle schon die reformatorischen Schriften Luthers studiert.

Am 26. September 1529 hielt dieser Mönch Heinrich Traphagen von der heute noch vorhandenen spätmittelterlichen Kanzel in St. Simeonis eine Predigt, die nach dem Mindener Chronisten des 16. Jahrhunderts, Heinrich Piel, keinen Zweifel zulässt, „dass er der (katholischen) Religion abgetreten und lutherisch wäre“. Der Abt des Klosters, Heinrich Keppelen, ließ daraufhin den ketzerischen Mönch und Seelsorger Traphagen festnehmen und ihn in das städtische Gefängnis im Keller des Rathauses einsperren.

Die Folgen waren für den Abt und das Kloster wohl nicht absehbar. Die ständig wachsende evangelische Bürgerbewegung traf sich heimlich, schritt dann zur Tat, brach unrechtmäßig in das Stadtgefängnis ein, befreite den inhaftierten Heinrich Traphagen ohne Wissen des Abtes und des Rates und demonstrierte wenige Tage später - sozusagen unter dem Motto „Wir sind das Volk“ - für ihre reformatorische Glaubensüberzeugung. Am Sonntag, 3. Oktober 1529, setzte die evangelische Bürgerbewegung in Minden den lutherisch predigenden Mönch Traphagen öffentlich und demonstrativ wieder in sein Pfarramt an St. Simeon ein.

In der Predigt am gleichen Tag von der Kanzel in St. Simeon griff Traphagen Abt und Konvent von St. Mauritius scharf an, so dass die aufgebrachte, lutherisch gesonnene Bevölkerung nach dem Gottesdienst dem Abt die Fensterscheiben seiner Klosterwohnung einwarf. Sie bildete anschließend einen Ausschuss von 36 Männern (je zwölf aus den drei Mindener Kirchspielen), die den Prediger Traphagen unterstützen und die Führung der Bürgerbewegung übernehmen sollten.

Aber nicht nur der Abt des Klosters, sondern auch der Rat der Stadt hatte die Entwicklung unterschätzt. Ratserlasse als „systemstabilisierende“ Verbote wurden von den Mindener Bürgern nicht mehr beachtet, die Autorität des Rates schwand, bis er sich schließlich mehrheitlich zur lutherischen Lehre bekannte, insbesondere die Ratsherren Johann Brüning, Peter Wiehe und Johann Gevekote. Im Dezember 1529 verlangte die evangelische Bewegung auch in der Martinikirche evangelischen Gottesdienst. Der Ausschuss der 36 - nicht der Rat - forderte von den Dekanen der beiden Kollegiatstifte und dem Abt des Mauritiusklosters im Rathaus den Übertritt ihrer Konvente zur neuen Lehre.

Als die Prälaten die Forderungen ablehnten, wurden ihnen Schutzgeldzahlungen auferlegt, und der zahlungsunwillige Abt von St. Mauritius wurde vorübergehend eingesperrt. Zu den Forderungen, die er schließlich gezwungenermaßen akzeptieren musste, gehörte auch die Verpflichtung, dem Pfarrer, der in der Simeonskirche evangelischen Gottesdienst halte, Lebensunterhalt zu gewähren, ihn „vom Tuch der Mönche“ zu kleiden und diejenigen Mönche, die aus dem Kloster austreten wollen oder als evangelische Prediger berufen werden, ohne Behinderungen gehen zu lassen. Es zeigt sich also, dass es der reformatorischen Kirche in Minden von Beginn an auch um die materielle Absicherung der Pfarrstelle von St. Simeonis ging. Und es zeigt sich, dass sich diese Geschichte fortsetzte.

Nikolaus Krage predigt in Minden.Schon zwei Monate später hatte der evangelische Theologe Nikolaus Krage die evangelische Kirchenordnung für die Stadt abgefasst, auf die der Prediger Heinrich Traphagen und seine evangelischen Amtsbrüder in St. Marien und St. Martini verpflichtet wurden. Diese Kirchenordnung wurde am 13. Februar 1530 der Mindener Bevölkerung in der Ratskirche St. Martini als städtische Satzung verlesen. Mit dieser evangelischen Kirchenordnung beanspruchte der Rat der Stadt das „jus reformandi“ für die de iure dem bischöflichen Stadtherrn unterstehende Stadt Minden und konnte dieses Recht auch behaupten. Die Mindener Kirchenordnung, die noch vor der ältesten deutschen, auf dem Reichstag von Augsburg am 25. Juni 1530 vorgelegten „Augsburger Bekenntnisschrift“ in Kraft trat, führte die revolutionäre evangelische Bewegung zu einem juristisch geordnetem städtischen Kirchenwesen mit entsprechender kommunaler Verfassung.

Das „stadtmindener Bekenntnis“ vom Februar 1530 war auch die erste evangelische Kirchenordnung in Westfalen. Die mit ihr beschlossene Gründung der städtischen Lateinschule in Minden machte diese Schule zum ersten evangelischen Gymnasium in Westfalen. Sie wurde aber auch die Grundlage für eine selbständig verfasste evangelisch-lutherische Kirche der Stadt Minden. Die Stadt behauptete -  mindestens bis 1807 - sowohl die Kirchenhoheit (ius circa sacra) als auch das Kirchenregiment (ius in sacra), allerdings nicht mehr über die reformierte Kirche seit 1669.

In der Stadt Minden bildeten sich nach 1530 ein städtisches Konsistorium als Kirchenleitung und ein städtisches geistliches Gericht anstelle des alten bischöflichen Archdiakonalgerichts. Seit 1530 wurde ein Stadtsuperintendent ernannt, im 17. Jahrhundert als „Senior ministerii“ bezeichnet, der das „Geistliche Ministerium“, das heißt die Gemeinschaft der evangelisch-lutherischen Pfarrer und theologisch ausgebildeten Gymnasiallehrer der Stadt, leitete. Trotz Reichsachtsurteil des Reichskammergerichts 1538, trotz Kapitulation der Stadt im Schmalkaldischen Krieg 1547, trotz „Interim“ 1548, trotz Besetzung durch kaiserlich katholische Truppen 1625 und Gegenreformation 1629-34 konnte sich die „Evangelisch-lutherische Kirche der Stadt Minden“ behaupten. Ihre Selbständigkeit wurde ausdrücklich im Westfälischen Frieden 1648 festgeschrieben.

Diese staatsrechtlich und zugleich völkerrechtliche Absicherung hinderte sogar den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg und alle seine Nachfolger als Landesherren des Fürstentums Minden daran, die selbständige evangelisch-lutherische Stadtkirche in die evangelisch Mindener Landeskirche einzugliedern und die städtischen kirchlichen Behörden und Institutionen dem später gegründeten Landeskonsistorium in Petershagen, danach in Minden zu unterstellen. Die Aufhebung der Kirchenhoheit der Stadt Minden gelang dem preußischen Staat erst nach 1815, nach Gründung der preußischen Provinz Westfalen.

Zur Gründung einer preußischen Provinzialkirche in Westfalen und zur Gründung eines evangelischen Konsistoriums in Münster wurden neben dem städtischen Mindener Konsistorium auch gleich das Mindener Landeskonsistorium (seit 1719 auch für Ravensberg zuständig) aufgelöst. In der Stadt Minden war niemand zu dieser kirchlichen Neuordnung durch königliche Konsistorialräte befragt worden, wahrscheinlich auch nicht, als der bisher kirchlich selbständigen Stadt bekannt wurde, dass sie in den am 9. Juli 1818 gegründeten Kirchenkreis Minden eingegliedert worden sei.

An den Patronatsverhältnissen der evangelischen Kirchen in der Stadt änderte die neue westfälische Landeskirche vorerst nichts, da ein Patronat mit Leistungsverpflichtungen verbunden ist. Auf behördliche Anfrage teilte der Magistrat der Stadt 1822 zum Beispiel mit, dass sie wie über St. Marien und St. Martini zusammen mit dem Kirchenvorstand und den Mitgliedern der Kirchengemeinde das Patronat über die Pfarrkirche St. Simeon mit allen dazu gehörigen Rechten und Pflichten habe. Zu diesen Rechten gehörte auch das Recht, den Pfarrer der Kirche zu bestimmen.

Die materielle Ausstattung der evangelischen Pfarren in der Stadt Minden und speziell der Pfarrstelle von St. Simeonis war zunächst sehr schwierig und konnte nur durch zusätzliche private Stiftungen bewältigt werden. 1529 hatte der 36er-Ausschuss das Mauritiuskloster wegen der inkorporierten Simeonspfarre noch zwingen können, dem von ihm eingesetzten Seelsorger Heinrich Traphagen den Lebensunterhalt zu sichern, aber die Situation änderte sich, als das Reichskammergericht 1536 alle von der Stadt Minden dem katholischen Klerus aufgezwungenen Verträge für ungültig erklärt hatte. Nun weigerte sich das Kloster trotz Mahnungen der Stadt, den evangelischen Pfarrer an St. Simeonis zu besolden. Abt Hermann Davensberg teilte der Stadt am 7. März 1538 mit, dass die Zahlungen des Pfarrergehaltes eingestellt worden seien. Die Inkorporation der Pfarrstelle in das Kloster sollte allerdings weiter bestehen.

So beteuerte der Abt dem Mindener Administrator Franz von Waldeck 1548 gegenüber, seit 1530 sei es sein Wunsch, die Pfarrstelle mit einem katholischen Priester zu besetzen, das sei aber zurzeit unmöglich, wenn man sich in Minden nicht außergewöhnlichen Gefahren aussetzen wolle, die mit der Einsetzung eines katholischen Geistlichen verbunden seien. Als die Pfarrstelle an St. Simeonis 1551 frei geworden war, bat das Kirchspiel St. Simeonis am 3. März 1551 den Abt des Klosters, Johann von der Mersch, um die Einsetzung eines lutherischen Geistlichen als Pfarrer und 1563 schlossen die Vorsteher der Simeonskirche wegen der Wohnung des evangelischen Pfarrers von St. Simeon mit dem Kloster einen Vergleich. Aber der Streit zwischen Stadt und Mauritiuskloster wegen der  Simeonspfarre ging weiter und wurde Gegenstand in einem Reichskammergerichtsprozess der katholischen Konvente gegen die Stadt Minden.

In diesem Prozess argumentierte die Stadt 1579, die Simeonskirche sei unstreitig und dokumentarisch nachweisbar eine Pfarrkirche und das Kloster St. Mauritius sei verpflichtet, an dieser Kirche einen Pfarrer einzusetzen und diesen ebenso wie den Kantor und den Küster zu besolden, und zwar unabhängig davon, welcher Konfession die „Kirchendiener“ angehörten. Nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 habe der Abt den Kirchspielseingesessenen nicht nur ihre Pfarrkirche zu belassen, sondern auch die Besoldung der „Kirchendiener“ zu tragen. Wann dieser Streit beigelegt wurde, wann die Inkorporation der evangelischen Pfarrkirche in das katholische Kloster als aufgelöst galt, wann die Stadt das Patronat für St. Simeon übernahm und die Besoldung der „Kirchendiener“ sicherstellen musste, ist bisher nicht erforscht.

Da die Kirchengemeinde von St. Simeonis zahlenmäßig seit jeher klein war, und deswegen die „Stolgebühren“ für Taufen, Trauungen und Beerdigungen nur wenig zur Verbesserung des „Grundgehaltes“ des Pfarrers beitragen konnten, kamen Legate und testamentarische Vermächtnisse wohlhabender Mindener Bürger gerade recht, um das bescheidene Pfarrvermögen zu verbessern. 1574 stiftete Bürgermeister a. D. Peter Wiehe ein Kapital von 1000 Goldgulden für die Mindener Pfarrkirchen, die städtische Lateinschule und für die Armen. Der Teilbetrag, der den evangelischen Pfarrern in der Stadt zugute kam, war so groß, dass der Pfarrer an St. Simeon jährlich 10 Goldgulden zu seinem Grundgehalt hinzubekam.

1575 stiftete der Mindener Bürger Daniel von Campen ebenfalls ein namhaftes Kapital, dessen Zinserträge die Pfarrer von St. Simeon, St. Martini und St. Marien bekamen. 1594 setzte die Witwe des Bürgermeisters Thomas von Campen, Wobbeke Clare, ein Legat von 100 Talern aus, dessen Zinserträge ausschließlich zugunsten der 1594 begonnenen Nachmittagsgottesdienste am dritten Weihnachts-, Oster- und Pfingsttag zu verwenden waren. Sie wurden „durch die Cantorey und Music zu Minden, pro tempore Cantore Henrico Ristedt“, Lehrer am Mindener Gymnasium, gestaltet, der „die lateinische pure in Augspurgischer Confession fundirte Vesper gesungen“ hat. Organist war 1594 Johannes Utrecht, dessen Sohn am Hof zu Celle als Hofkapellmeister und Organist tätig war.

1664 bedachte der ehemalige Mindener Bürgermeister Heinrich Schmitting zahlreiche Kirchen, Einrichtungen und Personengruppen in seinem Testament, unter anderem die Simeonskirche, ihren Pfarrer, den Kantor und den Küster, zumal die Kirche „gantz geringe an Pfarrgenossen begriffen und weinigh in redditibus und Aufnehmen versehen ist“. Das Pfarrvermögen ergänzte er durch ein großes Grundstück außerhalb des Simeonstores an der Holzmasch, dessen Jahrespacht etwa zwölf Taler einbrachte und durch drei Morgen Land auf dem Galgenfeld, das jährlich etwa drei Taler Pachtgeld abwarf. Diese Einnahmen sollte der jeweilige Pfarrer erhalten, solange er im Dienst war.

1719 vermachte der Mindener Bürgermeister und Syndikus Dr. jur. Christoph Heinrich Westorp, der 1721 verstarb, der Simeonskirche testamentarisch ein Kapital von 600 Talern. Der jährliche Zinsertrag sollte der Aufbesserung des Pfarrergehaltes dienen. Dennoch waren die Einkünfte des Pfarrers an St. Simeon eher gering und die ständigen Auseinandersetzungen wegen der Besoldung mit dem benachbarten Kloster eher groß.

Heinrich Traphagen, der schon erwähnte erste evangelische Prediger, blieb nur wenige Jahre bis 1534. Er wurde Pfarrer in Isernhagen bei Hannover, 1556 wechselte er in eine Pfarrstelle in Steinhorst bei Gifhorn. Im Rahmen der Generalkirchenvisitation im Fürstentum Lüneburg wurde auch Pastor Traphagen 1568 visitiert und vom Visitator in lateinischer Sprache beurteilt: „Er kam erst spät am Abend, da er an der Examinierung der anderen Pastoren nicht interessiert war. Als er tags darauf selbst über die kirchliche Lehre befragt wurde, antwortete er recht gut, aber dass er über ein wirkliches [theologisches] Fundament verfügt, war nicht zu erkennen.“ Dann fügt der Protokollant auf deutsch hinzu: „Sol einen köstlichen vorrath haben an büchern. Ist ane kinder.“ Dem ersten Pfarrer Traphagen an der Simeonskirche folgten ab 1534 nachweislich 30 evangelische Pfarrer, die seit 474 Jahren die Seelsorge wahrgenommen haben, und manche sind durch zusätzliche Aspekte oder Aktivitäten bekannt geworden.

Der sechste Pfarrer, Lucas Varenholtz (1576 – 1597), unterzeichnete mit seinen Mindener Amtsbrüdern und den Theologen am Gymnasium im Namen der Stadt Minden die „Konkordienformel“ von 1577, die eine der Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland wurde. Der zehnte Pfarrer, Magister Johann Daniel Sostmann (1665 – 1692), war gleichzeitig „Senior“ des „geistlichen Ministeriums“ (Stadtsuperintendent). Der 14. Pfarrer, Anton Gottfried Schlichthaber, verfasste um 1750 eine fünfbändige Kirchengeschichte des Fürstentums Minden. Der 18. Pfarrer, Georg Hanff (1811 – 1834), war seit 1817 zugleich Konsistorial- und Schulrat der Regierung Minden; er gründete den Vorläufer der heutigen Königschule. Der 21. Pfarrer, Heinrich Pötter (1874 – 1886), war außerdem Regierungsschulrat, 1879 bis 1886 Superintendent des Kirchenkreises Minden, danach Generalsuperintendent in Stettin. Der 24. Pfarrer, Martin Büttner (1893 – 1905), wurde später Superintendent und Konsistorialrat in Berlin.

Mehrfach war die Simeonskirche im Laufe ihrer Geschichte gesperrt: Durch die Gegenreformation 1629 bis 1634 durch französisches oder preußisches Militär. Aber Pfarre und Gemeinde bestanden auch in diesen „Interims-Zeiten“. Was aber mit Kirchen geschehen kann und mit vielen Kirchen geschehen ist, die „funktionslos“ geworden sind oder denen die Gemeinde und Pfarrer fehlten, das soll beispielhaft an drei Kirchen gezeigt werden, die sich für die Zeitgenossen „nicht mehr rechneten“, als sie ihren Abbruch zu ließen oder veranlassten.

Der Dom St. Marien (Erzbistum Hamburg-Bremen) in Hamburg überlebte mit seinem Domkapitel die Reformation 1529, weil er „nicht städtisch“ war, bis 1804. Als er auf Grund des Reichsdeputationshauptschlusses 1804 an den Stadtstaat Hamburg überging, stellte dieser fest, dass der Dom weder über eine Pfarrstelle noch über eine Gemeinde verfügte. Das führte dazu, dass die zwölf Domherren von der Stadt mit Renten abgefunden wurden und der Dom 1807 zum Abbruch verkauft wurde. Das noch immer unbebaute Domgelände südlich der Petrikirche erinnert heute noch an den Skandal von 1807.

In Goslar wurde im Kaiserpfalz-Bezirk Mitte des 11. Jahrhunderts das Kollegiatstift St. Simon et Juda gegründet, es wurde 1566 evangelisch und 1802 aufgehoben. Die Stiftskirche („Dom“) war aber nicht zugleich Pfarrkirche; nach 1802 erklärte man sie für „baufällig“. 1819 war der Verfall genügend groß, um sie von 1820 bis 1822 - bis auf die „Domvorhalle“ - abzureißen. In Hamburg und Goslar wurde deutsche Geschichte entsorgt.

Als in Minden im Zuge der Reformation 1530 das Dominikanerkloster St. Pauli aufgelöst wurde, blieb die Klosterkirche (Alte Kirchstraße) zwar bestehen und wurde von der Stadt, von der Kirche und vom Staat auf verschiedene Weise genutzt, aber nicht angemessen baulich unterhalten - weil die ehemalige Klosterkirche nicht zugleich auch eine Pfarrkirche war. Die letzte Chance ging dahin, als die lutherische Stadt Minden der noch jungen reformierten Gemeinde, die im 17. Jahrhundert von Petershagen kommend  in Minden eine Kirche suchte, den Wunsch abschlug, die ehemalige Klosterkirche zu erwerben und als reformierte Gemeindekirche zu nutzen. 1774 wurde die ehemalige Klosterkirche aus dem 13. Jahrhundert abgebrochen und damit ein Zeugnis der Mindener Stadt- und Kirchengeschichte beseitigt.

So jedenfalls darf es der Pfarrkirche St. Simeon in Minden nicht eines Tages auch ergehen. Man kann sich auch bei einer modernen, der Gegenwart verpflichteten Kirchenleitung nicht vorstellen, dass sie unter dem gegenwärtigen Gebot der finanziellen Einschränkung ihre Vergangenheit ganz aus den Augen verliert und die Axt an jenen Baum legt, dessen eine Wurzel nach Minden reicht, an die Kanzel der Pfarrkirche St. Simeonis!

Aber auch das kommunale, überkonfessionelle Minden, „die historische Stadt voller Leben“, kann sich heute keine weiteren „Leerstände“ oder Kirchenschließungen im Stadtzentrum mehr leisten. Deshalb ist das Schicksal der Pfarrkirche St. Simeon auch eine Angelegenheit der Kommune Minden. Die Stadt Minden, deren Rat seit 700 Jahren dem „bonum commune“ der Stadt und ihrer Bürger verpflichtet ist, kam ihrer Pflicht um das Gemeinwohl übrigens auch mit Hilfe der Pfarrkiche St. Simeon nach. Schon 1476 ist die Rede vom Turm der Kirche St. Simeonis, der vom Bischof als Eigentum der „Kirchspielseingesessenen“ anerkannt wurde. Und 1479 werden auch Glocken in diesem Turm erwähnt.

Die Kirchtürme in einer Stadt waren die Ausguckposten für die Türmer der Stadt. Die Türmer waren einerseits städtische Feuerwache und andererseits Späher, die weit über die Stadtmauern hinaus nach Feinden Ausschau hielten. Diese Ausschau nach Süden wurde vom Simeonsturm aus wahrgenommen und gemeldet, wenn jemand durch die Porta Westfalica, etwa aus Bielefeld, anrückte und „etwas im Schilde führte“ - oder vom „Rosenthal“ aus gegen die Stadt vorrücken wollte. Deshalb wurde der Simeonsturm 1594 erheblich erhöht, um den Mindenern den Weitblick zu verbessern. Als der Turmbau fertig war, maß er bis zur Spitze des Turmhelms 73,5 Meter, aber offenbar war seine Statik nicht sicher, so dass er schon nach 20 Jahren wieder verkürzt werden musste.

Im Untergeschoss dieses alten Turmes auf der Südseite der Kirche, sieht man noch das alte Mindener Stadtwappen ohne Reichsadler aus der Zeit vor 1627: Die gekreuzten Schlüssel, die auch im spätmittelalterlichen Sekretsiegel der Stadt Minden zu finden sind. Als der neue Turm an der Nordseite der Kirche errichtet wurde, stiftete die Stadt Minden eine neue Glocke für St. Simeonis. Vor etwa 25 Jahren ließ die Stadt das gemalte Epitaph des Bürgermeister-Ehepaares Schmitting/Hävermann restaurieren und präsentiert es seitdem als bedeutende Leihgabe der Kirche im Rathaus. Sollte es jetzt oder künftig wirklich darum gehen, die alte städtische Pfarrkirche St.  Simeonis retten zu müssen, so müsste - eingedenk der jahrhundertelangen Beziehungen zwischen Stadt und Kirche - die Stadt Minden sofort die Sturmglocke schlagen und dazu beitragen, die Gefahr abzuwenden. Sonst könnte es sein, dass das Geläut vom Turm der evangelischen Simeonskirche für die Gottesdienste der benachbarten turmlosen katholischen Mauritiuskirche als einziges Zeichen praktischer Ökumene im Bereich der einzigartigen Doppelkirchenanlage übrig bliebe. Videant consules!

Der Autor Dr. Hans Nordsiek war bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand Leiter des Kommunalarchives Minden. Aufsatz bearbeitet von Hans-Jürgen Amtage. 

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